Jesus auf der Straße

Timothy Schmalz‘ Skulpturen in Rom

Neulich versuchte ich verzweifelt, die Millionen von Fotos zu sortieren, als ich auf Aufnahmen stieß, die ich vor Jahren in Rom gemacht hatte. Zwei Bronzeskulpturen des kanadischen Bildhauers Timothy Schmalz, die Jesus darstellen. Anders als die gewohnte Christus-Darstellung in der abendländischen Kultur, die mich schon immer irritiert hat – warum wird Jesus meist so elend und qualvoll dargestellt, nackt und blutend am Kreuz? –, sind diese beiden Skulpturen tief in Umhänge eingehüllt.

Die Entdeckung

Rom ist eine Stadt, die den Besucher mit ihrer Fülle an Kunstwerken und Geschichte zu überwältigen vermag. Inmitten dieser Pracht stieß ich während eines Spaziergangs auf zwei Skulpturen, die sich radikal von allem unterschieden, was ich zuvor gesehen hatte. Die Werke des kanadischen Bildhauers Timothy P. Schmalz konfrontierten mich mit einer hyperrealistischen Darstellung des Göttlichen, die zutiefst verstörend war.

Die erste Begegnung ereignete sich in der Nähe der Zentrale der Gemeinschaft Sant’Egidio im Stadtteil Trastevere. Dort liegt „Homeless Jesus“ – eine Gestalt auf einer Parkbank, in eine Decke gehüllt. Nur die Wundmale an den Füßen verraten die wahre Identität des Dargestellten.

Die zweite Skulptur, „When I was hungry and thirsty“, entdeckte ich am Eingang des Krankenhauses Santo Spirito in Sassia, gegenüber dem Petersdom. Hier sitzt Jesus als Bettler in einer Hausecke, die Hand mit den sichtbaren Stigmata ausgestreckt, vor sich Teller und Becher.

„I am hungry and thirsty“, Timothy P. Schmalz 2013, Rom

Deutungsversuche

Was diese Kunstwerke so eindringlich macht, ist ihre radikale Umkehrung unserer gewohnten Christus-Ikonografie. Schmalz verzichtet auf die traditionelle Erhöhung und Verklärung der göttlichen Gestalt. Stattdessen zeigt er Jesus in seiner vollständigen Menschlichkeit – verwundbar, bedürftig und übersehen, denn keiner scheint den Obdachlosen beziehungsweise Bettler eines Blickes zu würdigen.

Diese Darstellung ist theologisch durchaus berechtigt. Als Koreanerin bin ich christlich erzogen und bibelfest. Die Skulpturen verweisen auf die Inkarnation als radikale Selbsterniedrigung Gottes und auf die Worte aus dem Matthäusevangelium, wonach Christus in den Geringsten unter uns zu finden ist: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

Die Standorte verstärken diese Botschaft. Die Gemeinschaft Sant’Egidio, 1968 gegründet, widmet sich seit Jahrzehnten der Arbeit mit Armen und Ausgegrenzten. Das Krankenhaus Santo Spirito, traditionell ein Ort der Fürsorge für Pilger und Bedürftige, schafft einen Kontext, in dem Schmalz‘ Kunstwerke ihre volle Wirkung entfalten. Hier wird Kunst nicht zum ästhetischen Selbstzweck, sondern zum prophetischen Zeichen.

Reflexion

Besonders bemerkenswert war die Reaktion der Passanten – oder vielmehr das Fehlen einer solchen. Ich hatte gedacht, vor einer solchen Skulptur müsse jeder Halt machen und nachdenklich werden. Die meisten Menschen gingen jedoch vorbei, als seien die Skulpturen unsichtbar. Diese Gleichgültigkeit spiegelt wider, wie unsere Gesellschaft mit Obdachlosigkeit und Armut umgeht: peinlich berührt wegschauen.

Ist diese Reaktion vom Künstler gewollt? Schmalz‘ Werk steht in einer langen Tradition christlicher Kunst, die das Leiden Christi mit dem Leiden der Gegenwart verbindet. Doch während mittelalterliche Darstellungen des leidenden Christus in den Kirchen oft zur Andacht einladen, rufen diese Skulpturen im urbanen Alltag verstörende Gefühle hervor.

Vielleicht denken wir – ähnlich wie bei der heutigen Trennung von Arbeit und Privatleben –, dass Jesus-Darstellungen nur in die Kirche oder an dafür vorgesehene Orte wie Wegkreuzungen gehören, nicht aber auf eine Bank oder in eine Hausecke.

Eine stumme Anklage?

Ich verstehe die Skulpturen als eine stumme Anklage: „Sperrt mich nicht ein, ich bin kein Devotionsobjekt am Kirchenaltar. Ich weile unter euch hier auf der Straße.“

Die Begegnung mit diesen Fotos erweckte bei mir die Unruhe, die ich damals verspürt hatte. In einer Stadt, die das Zentrum der katholischen Christenheit darstellt, stellen Schmalz‘ Skulpturen die fundamentalen Fragen des Glaubens neu: Erkennen wir Christus in den Armen und Ausgegrenzten unserer Zeit?

Die Antwort ist ernüchternd. Eins ist mir klar geworden: Wir haben die wichtige Lehre von Jesus vergessen. Auch angesichts der eindeutigen Fingerzeige des Künstlers erkennen wir nicht den Jesus in Obdachlosen und Bettlern. Wir gehen – wie die meisten Passanten – achtlos vorbei. Die Skulpturen stehen da als stumme Zeugen unseres Versagens, als Mahnung an eine Botschaft, die wir zu hören nicht mehr bereit sind.

© Spurensucherin

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