Mein Mann hat wieder mal damit angefangen.
Im vergangenen Februar oder März sagte er eines Tages, dass Die Zeit eine interessante Buchrezension über einen Roman gebracht hätte. Die Autorin des Romans sei eine Koreanerin. Ob ich nicht die Rezension lesen wolle?
„Koreanerin? Hier aufgewachsen?“
„Ja.“
„Wie heißt der Roman?“
„Die große Heimkehr.“
„Die Heimkehr!? Aha, dann lieber nicht.“
„Warum nicht?“
„Bestimmt eine postmigrantische Schnulze, oder? Die in einer fremden Kultur aufgewachsene junge Frau sucht ihre Heimat und Identität. Gar eine Autobiografie? Auf so was habe ich keinen Bock.“
„Sie schreibt über den Koreakrieg und die Schicksale dreier junger Menschen, die 1959 in Seoul aufeinandertreffen und 1960 in Osaka auseinandergehen.“
„Was? Über den Koreakrieg? 1959 und 1960? Das ist seltsam.“
„Der Roman sei weder eine Autobiografie noch eine postmigrantische Schnulze. Ein packendes politisches Drama soll er sein.“
„Der Krieg war weit vor ihrer Zeit. Sie konnte nicht wissen, was damals passiert war. Zumal, wenn sie hier aufgewachsen ist.“
„Warum denn nicht?“
„Was gibt es über den Koreakrieg noch Neues zu schreiben? Ich habe genug davon gelesen. Du weißt schon, ich bin in den 60er Jahren in Seoul aufgewachsen. Ich weiß, wie es damals war. Glaube zumindest zu wissen. Meine Mutter hat fast jeden Tag über ihre Erfahrungen im Krieg geredet. Außerdem haben koreanische Schriftsteller damals über nichts anderes geschrieben als den Krieg. Ich habe hunderte Romane und Erzählungen darüber gelesen, weil es nichts anderes zu lesen gab.
Die Geschichte muss ich mir nun wirklich nicht von einer jungen Dame auf die Nase binden lassen. Das ist ja die Zeit ihrer Eltern!“
„Sie beschreibt, wie die Koreaner im Krieg gegenseitig Köpfe eingeschlagen haben.“
„Im Krieg tut man das immer. Der Mensch wird zur Bestie. Das weiß man doch.
Die koreanische Halbinsel war im Krieg abwechselnd von der kapitalistisch pro-amerikanischen oder der kommunistischen Armee besetzt. Jedes Mal, wenn eine Truppe – von welcher Seite immer – in einen Ort einmarschierte, wurden Menschen hingerichtet, mal weil die Leute angeblich mit den Kommunisten kollaboriert, mal weil sie den amerikanischen Soldaten zugejubelt haben. Man hatte so oder so zu sterben. Meine Eltern sind auf die Jeju-Insel geflohen, die vom Krieg weitgehend verschont blieb. Sie wären jedenfalls hingerichtet worden, wenn sie im Norden geblieben wären. Ich will nichts mehr davon hören.“
„Hast du auch gewusst, dass die Koreaner, die nach dem Krieg in Japan lebten, von Kim Il-Sung angeworben wurden? Dass sie zu Zigtausenden nach Nordkorea gegangen sind, weil Japan sie loswerden wollte? Und weil Kim Il-Sung Leute brauchte, um den kommunistischen Staat aufzubauen?“
„Was? Wovon redest du denn? Nein, ich habe noch nie so etwas gehört. Ist das wahr?“
„Ja, scheint so.“
„In Südkorea wurde nicht davon gesprochen. Nicht im Geschichtsunterricht, nicht in Büchern. Wenn das wahr ist, ist es wirklich ein starkes Stück!“
„Was, dass die Leute nach Norden gegangen sind? Oder dass du nichts davon gewusst hast?“
„Das Letztere. Ich kann mir denken, warum. Die Bücher und Filme waren voller Geschichten, wie schlimm die Nordkoreaner waren und wie viel Leid den Südkoreanern zugefügt worden war. Alle anderen Behauptungen wären verboten beziehungsweise zensiert worden. Wenn jemand hinter der Wahrheit her war, wurde er verhaftet. Spionage oder Landesverrat wurden ihnen angedichtet. Pro-Kommunismus beziehungsweise Pro-Nordkorea war per Gesetz verboten.
Es gibt in Südkorea noch dieses vermaladeite Gesetz zum Verfassungsschutz, das eigentlich einem Anti-Nordkorea-Gesetz gleichkommt. Ich bin zu lange weg, aber ich kann mir vorstellen, dass die junge Generation der Historiker daran arbeitet. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie in der Gesellschaft kaum Gehör findet. Es gibt noch immer diese große Gruppierung der extrem rechtsorientierten Menschen, die sehr mächtig sind. Diese Nationalisten hassen Kommunisten, wollen keine Wiedervereinigung, weil sie ihre Machtposition nicht verlieren wollen. Sie wollen den Status quo aufrechterhalten, solange sie leben. Was danach kommt, ist denen scheinbar egal. Der Rest der Bevölkerung wird mit K-Pop, Fernsehdramen und Konsumgütern vollgestopft. Leute singen, tanzen, lachen, essen, trinken und kaufen schöne Sachen. Wie schön! Wie im Schlaraffenland würde man sagen, wenn das Atomprogramm und die Raketen der Nordkoreaner nicht wären. Wenn die Grenze nicht wäre.
Wir verblöden langsam.“
„…“
„Woher will aber diese junge Dame – wie heißt sie? Anna Kim? Schöner Name – bitte wissen, was wirklich passiert war? Wenn sie hier aufgewachsen ist, kann sie bestimmt nur wenig Koreanisch. Sie kann unmöglich alles recherchiert haben. Wie denn auch?“
Trotz meiner Skepsis habe ich den Artikel gelesen. Danach wurde ich sehr nachdenklich. Ich musste einsehen, wie sehr ich mich irrte. Ich ging zum Computer, rief das Internet auf, tippte „Anna Kim, Die große Heimkehr“ ein.
Das Fazit:
Ich habe von „dieser jungen Dame“ tatsächlich eine ganze Menge über die koreanische Geschichte gelernt, vor allem den Teil der Geschichte, über den in Südkorea bis heute totgeschwiegen wird.
Die große Heimkehr bedeutet nicht, wie man leichthin annimmt, dass eine Schriftstellerin mit migrantischem Hintergrund „schreibend in das Land ihrer Familie zurückkehrt“ (Ijona Mangold, Alles Spione, in Die Zeit 12/2017). Die große Heimkehr war die Bezeichnung der großangelegten Aktion der 1960er Jahre, die die in Japan lebenden 90.000 Koreaner nach Nordkorea, in die „neue Heimat“ bringen sollte. 1960 sind die ersten in Osaka an Bord gegangen.
Um diese „große Heimkehr“ hat Anna Kim sorgfältig ihren Roman konstruiert. Er spielt ziemlich genau zur Hälfte 1959 in Seoul und zur anderen Hälfte 1960 in der koreanischen Siedlung in Osaka.
Übrigens, Anna Kim spricht fließend Koreanisch, sie hat monatelang in Korea und Japan recherchiert, viele Dokumente gelesen, zahlreiche Zeitzeugen einschließlich ihrer Verwandten interviewt und viele koreanische Filme aus den 50er Jahren gesehen. Dass sie akribisch recherchiert und viele Filme gesehen haben muss, merkt man ihrem Roman an.
© Spurensucherin








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