Singen gegen die Dämonen

Warum mich K-Pop Demon Hunters seither jeden Abend tröstet

Vor gut zwei Wochen fuhr mich eine Freundin an: „Wie—du—hast den Film IMMER NOCH nicht gesehen? Du hast doch über Schamanismus sogar ein Buch geschrieben. Recht hat sie, oder auch nicht ganz. Ich habe kein Buch über Schamanismus geschrieben, sondern über Pflanzensymbolik in der koreanischen Mythologie. Dort habe ich die Frauenfiguren, denen eine bestimmte Pflanze zugeordnet ist, als Schamaninnen identifiziert. Aber was hat das mit einem Animationsfilm, gar mit K-Pop zu tun? Meine Freundin meinte, es geht in dem Film um Schamanismus! Schau die bitte endlich den Film an! Warum ist sie nur so aufgeregt? Ist ja gut. Um sie zu beruhigen, habe ich mir den Film angeschaut: Einmal. Zweimal. Seitdem: jeden Abend.

Jetzt kommt dieser Animationsfilm – zugeben, eine Meisterproduktion – daher, der Pop und Ritual so selbstverständlich zusammendenkt, als wären sie schon immer so gewesen. Ich denke nach. Eigentlich ein genialer Einfall von der Filmemacherin Maggie Kang, die seit Jahrzehnten mit der Idee schwanger gegangen ist.  

Score Suit oder Hunter’s Mantra. Man bekommt einen Eindruck vom Urgesang „Sori“.

Was mich trifft: Stimme als Ritual

Im koreanischen Schamanismus führen meist Schamaninnen (Mudang) die Rituale aus. Diese Rituale heißen zufällig „gut“ (leicht zu merken!) : mit Gesang, Trommeln, Tanz – sie trösten, schelten, verhandeln mit den Toten und schicken sie dorthin zurück, wo sie hingehören. Diese Arbeit ist keine Folklore von gestern; sie existiert bis heute weiter, besonders in Städten und an der Peripherie.

Der Film setzt genau da an – nur mit Stadion, Lichtshow und Hooklines. Die Girl-Group HUNTR/X ist so zu sagen die Schamaninnen im 21. Jahrhundert. Und ihre Widersacher, die „Saja-Boys“ heißen nicht zufällig so. „Saja“ ist die koreanische Entsprechung von Sensenmann. Sie sind groß und schlank, sehr blaß und haben blaue Lippen. Sie tragen langen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut mit breitem Krempe. In Film verwandeln sie in die verführerische Boyband. Nur zum Schluss zeigen sie ihre wahre Identität.

Lore, die funktioniert: Honmoon, Saja Boys, Rumi

Die Erzählwelt kennt den Honmoon – eine Art seelische Membran zwischen Menschen- und Dämonenwelt. Wird sie „vergoldet“, gilt die Welt als geschützt; schwächt man sie, bricht das Böse durch. Der Gegenspieler, die Dämonen-Boyband will den Fan-Strom umlenken. Das ist Pop-Mythologie, ja – aber sie folgt der inneren Logik echter Rituale: Stimme, Wiederholung, Gemeinschaft als Schutz.

Rumi, die Frontfrau von HUNTR/X, ist halb Jägerin, halb Dämonin – ein kluger, heutiger Twist auf das alte Motiv der Mittlerin zwischen den Welten. Genau deshalb wird sie für so viele zur Identifikationsfigur. (Und ja: Ihre Zerrissenheit ist ausdrücklich Teil der Story.)

Der Song, der bleibt

Der letzte Track, „What It Sounds Like“, ist für mich ein kleines Meisterstück. Textlich geht es um Bruch und Integration – darum, in den Scherben Schönheit zu erkennen. Nicht: Wir sind Heldinnen. Sondern: Wir überleben. Für jemanden, der sich gerade wissenschaftlich mit ritueller Heilung beschäftigt, ist das frappierend nah an der Praxis: Nicht das Böse eliminieren, sondern es binden, integrieren, befrieden.

Sie singt nicht nur für Fans, sie singt mit ihnen. Das Konzert wird zum Schutzkreis. Dass die Regie (Maggie Kang & Chris Appelhans) diese Brücke so respektvoll schlägt, hat mich sofort gepackt. (Autorinnen/Produktion: u. a. Jenna Andrews, Stephen Kirk; Vocals: EJAE, AUDREY NUNA, REI AMI.)

What It Sounds Like Songtext

Nothing but the truth now
Nothing but the proof of what I am
The worst of what I came from, patterns I
m ashamed of
Things that even I don’t understand

I tried to fix it, I tried to fight it
My head was twisted, my heart divided
My lies all collided
I don
t know why I didn’t trust you to be on my side

I broke into a million pieces, and I can’t go back
But now I
m seeing all the beauty in the broken glass
The scars are part of me, darkness and harmony
My voice without the lies, this is what it sounds like

(Ich zitiere hier bewusst nur sehr kurz – der ganze Text lohnt sich. Und ja, ich höre ihn mir jeden Abend an.)

Zwischen Trost und Weltpolitik (ein Gedankenspiel)

Ich ertappe mich bei absurden Fantasien: Putin, Trump, Netanjahu & Co. unter einer akustischen Dusche aus HUNTR/X-Chören. Oder wir stülpen der Ukraine einen goldenen – oder regenbogenfarbenen – Honmoon über. Natürlich naiv. Aber die Sehnsucht ist echt: dass Stimme, gemeinsam erlebt, etwas in der Welt verschieben kann. Manchmal tun sie es ja sogar – wenn ein Stadion mitsingt, wenn eine Szene kollektiv atmet, wenn Pop plötzlich Ritual wird. (Dass selbst der Tennisstar Djokovic nach einem US-Open-Sieg die „Soda-Pop“-Choreo tanzt, ist ein hübsches Symptom dafür, wie weit diese Fiktion getragen wird.)

Warum das kulturell goldrichtig ist

Kang siedelt K-Pop bewusst in der Tradition der Mudang an – weibliche Linien, Stimme als Medium, Gemeinschaft als Adressat. Das ist keine Exotisierung, sondern ein produktives Weiterdenken: Pop als säkulares Ritual. Der Film übersetzt damit eine alte Technik der Heilung in die Grammatik der Gegenwart. Ich glaube, deshalb wirkt er so tröstlich. Das ist auch ein Grund, warum Koreaner so gern singen. In Deutchland habe ich das Singen verlernt. Durch den Film wurde es mir dessen schmerzlich bewußt.

So weit heute.

Hinweis für Mit-Spurensucher*innen: Wer tiefer in die Film-Lore (Honmoon, Saja Boys, Finale) und in die Musik einsteigen will, findet offizielle, spoilerfreundliche Überblickstexte und die Track-Credits bei Netflix/Tudum; Basisinfos zu Regie/Produktion bei Sony; Hintergründe zu mudang/gut bei Britannica.

© Spuresucher.in

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Ich suche Spuren – in Bildern, in Büchern, in Orten.
Besonders fasziniert mich Maria:
die Madonna in ihrer Wandelbarkeit, zwischen Kultbild und Kunstobjekt, zwischen Symbol und Sehnsucht.
Ebenso begegne ich Büchern, die nicht laut sind, aber lange nachhallen.

Ich schreibe, wenn eine Spur mich ruft.
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Mindestens einmal im Monat halte ich eine dieser Fährten fest – in Wort, Bild und manchmal auch Ton.

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